Experimentieren ist das Credo. Begriffe wie Taktischer Urbanismus, Reallabor, Urban Living Lab, Realexperiment, Verkehrsversuch, Pop-Up, Regulatory Sandbox bestimmen den ‚experimental turn‘ in Forschung und Praxis. Damit wird aktuell einer der spannendsten und vielversprechendsten Diskurse im Bereich Verkehr, Mobilität und öffentlicher Raum geführt. Doch was ist das alles überhaupt?
Taktischer Urbanismus spannt den Rahmen
Taktischer Urbanismus (engl.: Tactical Urbanism) stellt einen Überbegriff für taktische und experimentelle Eingriffe im öffentlichen Raum dar. Der Begriff schließt dabei eine Vielzahl formeller und informeller Ansätze ein. Physische Umgestaltungen des öffentlichen Raums können top-down (z.B. von Verwaltung und Planung) als auch bottom-up (z.B. von Bürger:innen oder NGOs) initiiert werden [1]. Die meist kurzfristigen, temporären und experimentellen Umsetzungen zeichnen sich durch eine Prozess- und Ergebnisoffenheit aus. Zur Kernidee der Ansätze gehört zudem die Skalierbarkeit der Projekte [2][3]: Aus einer Intervention „im Kleinen“ soll eine Umsetzung „im Großen“ entstehen: Temporäre Umgestaltungen im öffentlichen Raum sollen vor Ort verstetigt oder auf andere Räume und Städte ausgeweitet werden.
Taktischer Urbanismus ist ein Fachbegriff der wissenschaftlichen Literatur und beschreibt einen theoretischen Rahmen. In der Praxis werden die Begriffe Reallabor, Living Lab oder Realexperiment verwendet, in denen die genannten Eigenschaften von Taktischem Urbanismus angewendet und umgesetzt werden.
Realexperimente: Gamechanger für die Mobilität der Zukunft
Das Experiment gilt als Urform bzw. Urmethode wissenschaftlicher Forschung. Experimentieren ist also nichts Neues, es wurde nur im Zuge einer experimentellen Wende in Forschung und Praxis wiederbelebt und in den aktuellen Diskurs eingebracht [4]. Im vorliegenden Verständnis ist ein Experiment die zeitlich und räumlich begrenzte Erprobung von etwas Neuem in einem realweltlichen Setting (ergo: Realexperiment).
Bezogen auf den öffentlichen Mobilitätsraum kann das ein kleiner Straßenabschnitt oder ein ganzes Quartier sein, in dem eine neue bauliche oder verkehrsorganisatorische Lösung getestet wird. Durch diese testweise Umgestaltung soll sich ein nachhaltiges Aufenthalts- und Mobilitätsverhalten einstellen und verfestigen.
Ein Realexperiment… [5][6][7][8][9]
- …ist innovativ: Neues Wissen wird mit neuen Lösungen und sehr unterschiedlichen Akteur:innen versuchsweise umgesetzt;
- …ist räumlich verortet und begrenzt: Und damit macht es das Neue real erlebbar;
- …kann Akzeptanz fördern: Weil Menschen Neues häufig ablehnen;
- …ist ergebnisoffen: Das „perfekte“ und endgültige Ergebnis kennt niemand im Vorhinein;
- …kann nicht scheitern: Erfahrungen und Lerneffekte für einen weiteren Versuch sind Gold wert;
- …schont Ressourcen: Der Kosten- und Materialeinsatz ist gering;
- …ist flexibel: Interventionen sind zeitlich begrenzt, nachjustierbar, reversibel und formale Regelungen können zeitweise ausgesetzt werden;
- …produziert Wissen: über das Funktionieren von Prozessen, über Wirkungen und über soziale Interaktion der Beteiligten.
Realexperimente könnten demnach als Gamechanger für die zukunftsorientierte Gestaltung öffentlicher Mobilitätsräume fungieren.
Typen von Realexperimenten
Im Grunde lassen sich zwei Typen von Realexperimenten im öffentlichen Mobilitätsraum unterscheiden: Verkehrsversuche und temporäre Aktionen [9].
Verkehrsversuche zeichnen sich v.a. dadurch aus, dass sie top-down und formell verordnet werden. In einem Verkehrsversuch wird eine mögliche zukünftige Idee zur Gestaltung eines Straßenraums für ein Zeitraum von mehreren Wochen oder Monaten getestet und Auswirkungen bzw. Nutzen erforscht. Darunter fallen z.B. die probeweise Verordnung einer Fußgängerzone, die vorübergehende Umfunktionierung einer Autospur in eine Radspur (Pop-Up Radweg) [1] oder die temporäre Umgestaltung in einem ganzen Quartier, wie bspw. dem Wiener Supergrätzl. Der Verkehrsversuch bewegt sich dabei im regulatorischen Rahmen der StVO und muss behördlich abgesegnet werden.
Temporäre Aktionen sind demgegenüber Vorhaben im Straßenraum mit informellem und aktionistischem Charakter über ein paar Stunden bis maximal wenige Tage. Auch diese müssen in der Regel von der öffentlichen Verwaltung „abgesegnet“ sein, werden aber meist bottom-up (z.B. von Initiativen, NGOs und Künstler:innen) initiiert. Im Vordergrund steht dabei die Sensibilisierung für verkehrsbedingte Probleme durch kreative Aktivitäten, weniger die Evaluierung der Wirkungen neuer verkehrlicher Lösungen. Autofreie Tage oder der „Parking Day “ sind Beispiele für temporäre Aktionen [9].
Reallabor: Infrastruktur des Experimentierens
Im Kontext von Realexperimenten wird häufig der Begriff des Reallabors (fälschlicherweise als Synonym) verwendet. Es gibt keine einheitlich geteilte Definition des Begriffs, was vor allem daran liegt, dass er in vielen Anwendungsbereichen, in unterschiedlichen Branchen und von Personen mit unterschiedlichem fachlichem Hintergrund verwendet wird [5][10].
Gemeinsam ist allen Ansätzen, dass sie einen infrastrukturellen Rahmen für Realexperimente bilden, in dem verschiedene Akteur:innen aus Wissenschaft, Verwaltung und Wirtschaft mit Bürger:innen zusammenarbeiten [5][10][11][12]. Idealerweise reicht die Spanne von der Problemdefinition über das Vorgehen bis zur Evaluierung der Ergebnisse. Durch diese Konstellation des Zusammenwirkens von Akteur:innen entstehen Lernprozesse und Erfahrungswissen, das als Transformationswissen gebündelt, ausgetauscht und weitergegeben werden kann.
Das Reallabor ist der Rahmen, die Plattform oder die Infrastruktur und das Realexperiment ist eine Methode, mit der die Intervention im öffentlichen Mobilitätsraum durchgeführt wird.
Die Vorteile der Einbettung eines Realexperiments in ein Reallabor:
- Abgesichert durch wissenschaftliche Expertise
- Anwendung des aktuellen Stands der Forschung und der Technik
- Außenwirkung und Vorbildfunktion durch Verbreitung fundierter Erkenntnisse
- Evtl. (Teil-)Kostenersparnis durch Forschungsförderung
Realexperimente und Reallabore
Abbildung 2 verdeutlicht die unterschiedlichen Eigenschaften von Realexperimenten je nach Einbettung in einem Reallabor-Rahmen.
- Realexperimente, die top-down von Stadtverwaltungen initiiert und umgesetzt werden. Dabei handelt es sich um Verkehrsversuche oder andere temporäre Aktionen im öffentlichen Mobilitätsraum, ohne dass diese Experimente wissenschaftlich begleitet werden.
- Realexperimente, die durch wissenschaftliche Begleitung in einem Reallabor eingebettet sind. Die Eigenschaften für Realexperimente ohne Reallabor-Umgebung sind gleichgeltend. Hinzu kommt, dass neben potentiell weiteren Kostenvorteilen durch Forschungsförderungsgelder außerdem wissenschaftliche Expertise und die Anwendung des aktuellen Stands von Forschung und Technik die Qualität der Experimente sichern kann.
Mehr aus der Begriffslandschaft
In den bisherigen Passagen wurden mit dem Taktischen Urbanismus, dem Realexperiment und dem Reallabor die wichtigsten Begriffe erläutert. Im Kosmos des Experimentierens treten auch noch weitere Begriffe auf, die für die Praxis durchaus relevant sind. Diese werden im Folgenden kurz und prägnant definiert.
Mobilitätslabor
Mobilitätslabore sind Reallabore, die über das Experimentieren mit innovativen Ideen zukunftsweisende Lösungsansätze im Bereich Mobilität und Verkehr entwickeln. In Österreich sind aus Förderinitiativen des BMK seit dem Jahr 2014 sechs Mobilitätslabore hervorgegangen. Dies sind meist standortbezogene Einrichtungen, die die nötige Infrastruktur und Kompetenz zur Organisation der Prozesse, Umsetzung und Evaluation innovativer und experimenteller Projekte mit sich bringen. Dabei decken die Mobilitätslabore vielfältige Kompetenzen im Bereich Mobilität und Verkehr ab (für detaillierte Informationen s.: Innovationsplattform des BMK und der FFG)[13]. Urban Living Lab
Der Begriff des Living Lab ist der populärste aus dem englischsprachigen Raum. Seinen Ursprung hat er in den 1990er und 2000er Jahren, wo er noch ausschließlich als Format zur Entwicklung innovativer Lösungen für Unternehmen galt. In weiterer Folge wurde er dann europaweit auf andere Bereiche und Disziplinen übertragen [4][14]. Im Planungskontext entstand dadurch der Begriff des Urban Living Lab sowie weitere spezifischere Bezeichnungen, wie z.B. Urban Transition Lab [13].
Mit dem Begriff des Urban Living Labs wird dabei ein organisatorischer, prozessualer, kommunikativer, partizipativer Rahmen beschrieben, in dem Forschung, Verwaltung, Wirtschaft und Bürger:innen ko-kreativ in realweltlichen Settings zusammenwirken. Hierbei entwickeln sie begleitet von einem kollektiven Lernprozess gemeinsam innovative Lösungen, Produkte oder Dienstleistungen, um urbane Räume hinsichtlich der Bedürfnisse ihrer Nutzer:innen zu gestalten [15][16].
Reallabor oder Urban Living Lab?
Auffällig ist, dass im Kontext der Transformation öffentlicher Mobilitätsräume beide Begriffe etwa die gleichen Implikationen besitzen. Jedoch werden in der wissenschaftlichen Debatte immer wieder Unterschiede diskutiert, die zum Teil darauf zurückzuführen sind, dass der Begriff des Living Lab vor allem den englischsprachigen Diskurs europaweit prägte, während der Reallaborbegriff überwiegend im deutschsprachigen Raum auftaucht. Unterschiede betreffen v.a. die räumliche Verortung oder die Eigenschaften der Laborumgebungen [4][5][10].
Die wissenschaftlich-detaillierten Unterschiede zwischen den beiden Begriffen sind für die Praxis weniger bedeutsam. Im deutschsprachigen Raum wird dafür plädiert, den Begriff des Reallabors zu verwenden (für ein tiefergehendes Interesse s. unten angeführte Quellen).
Regulatory Sandbox: Ein kurzer Exkurs
Im Begriffswirrwarr verbirgt sich außerdem die Regulatory Sandbox[BL1] . Diese stellt dabei einen Überbegriff für regulierte Experimentierräume in verschiedenen Disziplinen und Branchen dar. Der Begriff wird in juristischen Kreisen als Synonym für Reallabor gesehen, da mit diesem meist ein „regulatorisches Erkenntnisinteresse“ verbunden ist [17][18]. Durch das gemeinsame Lernen in Reallaboren soll für Transformationsprozesse relevantes Wissen für die Ausgestaltung neuer gesetzlicher bzw. rechtlicher Grundlagen entstehen.
Quellen
[1] Achatz, P.; Dörrzapf, L.; Berger, M. (2020): Interventionen für eine nachhaltige Mobilitätskultur. In: Schrenk, M.; Popovich, V. V.; Zeile, P.; Elisei, P.; Beyer, C.; Ryser, J.; Reicher, C.; Çelik, C. (Hrsg.): Proceedings of the 25th International Conference on Urban Planning, Regional Development and Information Society. REAL CORP 2020: SHAPING URBAN CHANGE – Livable City Regions for the 21st Century. Wien: CORP Selbstverlag, S. 479-489. URL: https://www.corp.at/archive/CORP2020_74.pdf.
[2] Lydon, M.; Garcia, A. (2015): Tactical Urbanism. Short-term Action for Long-term Change. Washington D.C.: Island Press. URL: http://tacticalurbanismguide.com/guides/tactical-urbanism-the-book/.
[3] GDCI (2022): How to Implement Street Transformations. A Focus on Pop-up Interim Road Safety Projects. URL: https://globaldesigningcities.org/publication/how-to-implement-street-transformations/.
[4] Suitner, J. (2021): Towards Transformative Change. Die Schlüsselelemente experimenteller Ansätze in der städtischen Klimawandelanpassung erforschen. Der öffentliche Sektor, 47, 2, 53-64.
[5] Kern, K.; Haupt, W. (2021): Von Reallaboren zu urbanen Experimenten. Deutsche und internationale Debatten. Raumforschung und Raumordnung, 79, 4, 322-335.
[6] Bertolini, L. (2021): From „streets for traffic“ to „streets for people“. Can street experiments transform urban mobility?
[7] Schuitema, G.; Steg, L.; Forward, S. (2010): Explaining differences in acceptability before and acceptance after the implementation of a congestion charge in Stockholm. Transportation Research Part A, 44, 99-109.
[8] Börjesson, M.; Eliasson, J.; Hamilton, C. (2016): Why experience changes attitudes to congestion pricing. The case of Gothenburg. Transportation Research Part A: Policy and Practice, 85, 1-16.
[9] Wagner, A.; Naefe, K.; Molenda, I.; Reißner, M.; Brückner, S.; Weltring, W. (2022): Stadtexperimente. Von der Idee bis zur Umsetzung. Köln: Zukunftsnetz Mobilität NRW. URL: https://www.zukunftsnetz-mobilitaet.nrw.de/media/2022/5/16/db49cf12f84e697f50c9232a1cbb25d1/znm-leitfaden-stadtexperimente.pdf.
[10] Schneidewind, U. (2014): Urbane Reallabore – ein Blick in die aktuelle Forschungswerkstatt. pnd | online, 3, 1|7-7|7.
[11] Alcantara, S.; Lindner, D.; Löwe, C.; Kuhn, R.; Puttrowait, E. (2017): Die Kultur des Experimentierens. In Reallaboren Nachhaltigkeit gemeinsam schaffen. Stuttgart: Reallabor für nachhaltige Mobilitätskultur. URL: http://www.r-n-m.net/wp-content/uploads/2017/12/die_kultur_des_experimentierens_2017_rnm.pdf.
[13] BMK (2021): Die österreichischen Mobilitätslabore: Mobilitätswende? Gehen wir sie an! URL: https://mobilitaetderzukunft.at/de/artikel/mobilitaetslabore/.
[14] EIT Urban Mobility (2021): EIT Urban Mobility Knowledge base of innovative solutions in urban mobility and living labs. Final Report. URL: https://www.eiturbanmobility.eu/wp-content/uploads/2021/09/EITUrbanMobility_Living_labs_report_update_July2021-1.pdf.
[15] Ruijsink, S.; Smith, A. (2016): European Network of Living Labs (ENoLL). URL: http://www.transitsocialinnovation.eu/resource-hub/european-network-of-living-labs.
[16] Habibipour, A.; Stahlbröst, A.; Zalokar, S.; Vaittinen, I. (2020): Living Lab Handbook for Urban Living Labs Developing Nature-Based Solutions. URL: https://unalab.eu/system/files/2020-07/living-lab-handbook2020-07-09.pdf.
[17] BMWi (2019): Freiräume für Innovationen. Das Handbuch für Reallabore. Berlin. URL: https://www.foerderinfo.bund.de/SharedDocs/Publikationen/de/hightech/pdf/freiraeume-fuer-innovationen.pdf?__blob=publicationFile&v=3.
[18] Lachmayer, K.; Eisenberger, I.; Rehrl, K. (2019): EXTRA LAW – MOBILITY. Experimentierräume im Verkehrs- und Mobilitätsrecht. Interdisziplinäre Studie zur Erarbeitung eines neuen (Rechts)-Rahmens für die Erprobung neuer Verkehrstechnologien und Mobilitätskonzepte für Österreich. TEIL 1: Rechtswissenschaftliche Analyse des bestehenden Rechtsrahmens. Wien: BMVIT. URL: https://www.bmk.gv.at/themen/mobilitaet/alternative_verkehrskonzepte/automatisiertesFahren/publikationen/extralawmobility.html.
ICONS Abbildungsquellen (Abb.2):
acceptance © 2018 by Nithinan Tatah is licensed under CC BY 4.0
flexibility © 2023 by WARHAMMER is licensed under CC BY 4.0
Wisdom © 2023 by Chaiwat Kinkaew is licensed under CC BY 4.0
Cent © 2015 by Till Teenck is licensed under CC BY 4.0
modular © 2017 by Jolan Soens is licensed under CC BY 4.0
process © 2023 by gingertea is licensed under CC BY 4.0
scientific © 2019 by Eucalyp is licensed under CC BY 4.0
Research © 2020 by Adrien Coquet is licensed under CC BY 4.0