Nutzen von Realexperimenten

Modern dargestellte Umgestaltungsvorschläge für Straßenzug
© Lukas Philippovich

Realexperimente bieten viele Vorteile! In erster Linie verschaffen sie Wissen und Akzeptanz für Umgestaltungsmaßnahmen. In diesem Beitrag finden Sie die wichtigsten Argumente, um auch andere davon überzeugen zu können.

Warum Experimentieren? Mobilität verstehen und verändern ist eine der größten Herausforderungen der Planung in Städten und Gemeinden. Konventionelle Methoden stoßen dabei jedoch an ihre Grenzen. Es bedarf demnach innovativer Ansätze zur zukunftsorientierten Gestaltung öffentlicher Mobilitätsräume. Realexperimente können in diesem Kontext zum Gamechanger werden. Nachfolgend sind die vielseitigen positiven Aspekte von Realexperimenten aufgelistet und erläutert. Sie dienen auch als argumentative Grundlage, um politische Entscheidungsträger:innen abzuholen, zu überzeugen und sich für experimentelle Umsetzungen auszusprechen.

Exkurs: Was sind Realexperimente?

In einem Realexperiment wird eine zeitlich und räumlich begrenzte verkehrliche Lösung erprobt. Dies findet in einem realen Setting statt, d.h. in einer Straße werden Nutzer:innen mit neuen Gestaltungselementen und Mobilitätsangeboten konfrontiert. Realexperimente können ein Schritt in der Entwicklung und Umsetzung von Mobilitätslösungen sein. Sie bieten die Möglichkeit, Veränderungen

  • im Mobilitätsverhalten,
  • der Nutzungsaktivitäten im öffentlichen Raum,
  • sowie der Einstellungen von Nutzer:innen, Bewohner:innen oder auch Gewerbetreibenden

zu erfassen und offenzulegen , um sich so einer bestmöglichen Lösung für den lokalen Kontext anzunähern. In diesem Blogbeitrag finden Sie weitere Hintergrundinformationen.

Realexperimente sind innovativ

In Realexperimenten entsteht über die Konfrontation verschiedener Akteur:innen mit neuen planerischen Lösungen neues Wissen. Sie bieten einen neuen, alternativen und vielversprechenden Weg der integrativen Planung von Verkehr und öffentlichem Raum an. Damit „triggern“ sie zwei entscheidende Aspekte: Verhaltensroutinen von Nutzer:innen und Planungsroutinen in der öffentlichen Verwaltung.

Maßnahmen für lokale Innovationen

  • Alternative Nutzung von Stellflächen für Pkw (z.B. Rollrasen, Bäume, Sitzmöbel)
  • Alternative Nutzung von Straßen durch Zufahrtsbeschränkungen für den Pkw
  • Einführung oder Ausweitung verkehrsberuhigter Bereiche
  • Umbau einer Querungsstelle
  • Ausbau von Fuß- und Radwegen
  • Umsetzung des Parking Days (jährlicher Aktionstag zur Umnutzung von Pkw-Stellplätzen)
  • Einführung von Parklets (Umnutzung von Pkw-Stellplätzen durch Möblierungs- und Begrünungselemente)
  • Einführung neuer Mobilitätsangebote (z.B. Rad- oder Carsharing)

Zudem liegen Realexperimente im Trend. Damit kann die Durchführung eines Experiments bei erfolgreicher Umsetzung und öffentlichkeitswirksamer Kommunikation zu einer positiven Außenwirkung und Imagebildung der Gemeinde beitragen. Bspw. konnte das Projekt „Ottensen macht Platz“ den deutschen Verkehrsplanungspreis 2020 gewinnen [1].

Realexperimente schonen Ressourcen

Realexperimente versprechen kostengünstig eine neue reale Situation zu simulieren und sich somit risikofreier und zielführender einer optimalen Lösung anzunähern. So sind es vor allem die Material- und Baukosten, die Realexperimenten einen großen Vorteil gegenüber einer dauerhaften Umgestaltung verschaffen. Eindrücklich zeigen dies die Planungen im Hamburger Stadtteil Ottensen (Tabelle unten). Das Projekt „freiRaum Ottensen“ basiert dabei u.a. auf den Erkenntnissen, die aus dem Realexperiment „Ottensen macht Platz“ gezogen werden konnten.

Tabelle mit Details zu den Kosten von den Projekten Ottensen macht Platz und freiRaum Ottensen

Achtung: Das Realexperiment fungiert nicht als Ersatz für eine dauerhafte Umgestaltung. Jedoch lassen sich durch eine versuchsweise, kostengünstige Umgestaltung Fehlplanungen und kostspielige, nachträgliche Anpassungen einer dauerhaften, baulichen Maßnahme bereits im Vorhinein verhindern. Die Umgestaltung mit temporären Elementen kann auch ein kostengünstiger, erster Schritt in der Gestaltung von dauerhaft veränderten Straßenräumen sein. Ein gutes Beispiel dafür ist die Begegnungszone Zinzendorfgasse in Graz.

Realexperimente sind flexibel

Je nach Typ haben experimentelle Ansätze eine Dauer von nur einem Tag (z.B. zur Sensibilisierung im Rahmen einer temporären Aktion wie dem Parking Day) oder gar mehreren Wochen und Monaten (z.B. zur Erprobung neuer verkehrlicher Lösungen im Rahmen eines Verkehrsversuchs). Dabei können bisher geltende formale Regelungen an Ort und Stelle vorübergehend ausgesetzt bzw. geändert werden, damit der testweise Versuch sich in seiner Wirkung auf das Mobilitätsverhalten entfalten kann. Realexperimente können zudem jederzeit mit überschaubarem organisatorischen und baulichen Aufwand nachjustiert oder auch gestoppt werden, falls sich unausweichliche Hürden (z.B. starke Widerstände, rechtliche Schwierigkeiten) auftun.

Realexperimente produzieren Wissen

Realexperimente dienen als Probefeld und gleichzeitig partizipative Plattform für einen Dialog. Dabei entsteht Wissen über eine potenzielle verkehrliche Lösung entlang eines iterativen Annäherungsprozesses:

  • auf physischer Umsetzungsebene
  • auf prozessualer und kommunikativer Ebene
  • und durch beide kombiniert auch auf datenbezogener Ebene (empirische Evidenz).

Dabei bringen sie die Theorie in die Praxis: und zwar nicht nur zur verkehrlichen Funktionalität, sondern auch zur „sozialen“: Kontroversen und Widerstand aber auch Akzeptanz und positive Haltungen kommen ans Licht. Eine begleitende Evaluation der Wirkungen und Prozesse ist somit das A und O.

Realexperimente können nicht scheitern

Dadurch, dass jedes Realexperiment unabhängig vom Ausgang Wissen produziert, kann es auch nicht fehlschlagen. Ergebnisoffenheit und Lernbereitschaft sind elementare Eigenschaften von Realexperimenten. Dies wird vor allem durch eine begleitende Evaluation erreicht, durch die offengelegt werden kann:

  • an welcher Stelle, zu welchem Zeitpunkt, aufgrund welcher Barriere oder Hürde das Experiment gestoppt und daraufhin nachjustiert oder gar zum ursprünglichen Zustand zurückgekehrt werden musste.
  • welche Wirkungen tatsächlich durch die bauliche Umgestaltung entfaltet werden konnten und welche nicht.

Eine transparente Kommunikation der gewonnenen Erkenntnisse zeigt, dass Sie Ergebnisoffenheit und Lernen ernst nehmen und „leben“.

Realexperimente fördern Akzeptanz

Können Entscheider:innen und Planer:innen das „perfekte“ und endgültige bauliche und verkehrliche Rezept im Vorhinein bereits parat haben, das die Bedürfnisse aller Nutzer:innen und Anlieger:innen in Einklang bringen kann? Nein, vom Verständnis der allwissenden Planung haben wir uns längst verabschiedet. Der Raum soll schließlich für die Personen geplant werden, die diesen auch nutzen werden. Ohne Akzeptanz jener Personengruppen für neue Gestaltungen im öffentlichen Raum geht es also nicht [4].

Ergebnisse aus der Mobilitätsforschung zeigen, dass Personen neue Lösungen eher akzeptieren, wenn sie diese erlebt haben [5][6][7][8][9][10]. Status-Quo-Verzerrung (die ugs. bekannte „Macht der Gewohnheit“) wird die Bevorzugung des Ist-Zustandes gegenüber einer neuen Lösung bezeichnet. Die „Angst vor Neuem“ kann in diesem Sinne durch die temporäre Konfrontation mit einer alternativen baulichen Gestaltung des öffentlichen Raums herausgefordert werden. Realexperimente können somit Akzeptanz fördern und Widerstände reduzieren [11]. Essenziell ist hierfür eine echte partizipative Kultur und eine tiefgehende Evaluation im Zuge des Realexperiments.

Quellen

Die genannten Inhalte wurden überwiegend auf Basis verschiedener Leitfäden, Empfehlungspapiere, Handbücher und Forschungsberichte zusammengetragen, weswegen nur bestimmte Stellen im Text mit Quellenverweis direkt belegt sind. Folgende Quellen dienten dabei als Informationsbasis für die allgemeinen Ausführungen:

Direkte Referenzen:

  1. [1] SRL (2021): Pressemitteilung. Deutscher Verkehrsplanungspreis 2020 geht an Hamburg-Altona. URL: https://srl.de/dateien/dokumente/de/PM-Preistraeger_VPP_2020_20210204.pdf.
  2. [2] Bezirksversammlung Altona (2021): Drucksache – 21-2673. Kostenübersicht für das Projekt „Ottensen macht Platz“. URL: https://sitzungsdienst-altona.hamburg.de/bi/vo020.asp?VOLFDNR=1012242.
  3. [3] Bezirksamt Altona (2022): freiRaum Ottensen – Das autoarme Quartier. Bericht des Verkehrskonzepts. URL: https://www.hamburg.de/contentblob/16448186/7244ea468fcff75b1b68fc3f43a8d552/data/bericht-des-verkehrskonzepts.pdf.
  4. [4] Banister, D. (2008): The sustainable mobility paradigm. Transport Policy 15, 2, 73-80.
  5. [5] van Wee, B.; Annema; J. A.; van Barneveld, S. (2023): Controversial policies: growing support after implementation. A discussion paper. Transport Policy 139, 79-86.
  6. [6] Clarkson, J. P. (2017): The effect of Shared Space on Attitudes and Behaviour. Newcastle University. URL: https://theses.ncl.ac.uk/jspui/handle/10443/4090.
  7. [7] Börjesson, M.; Eliasson, J.; Hamilton, C. (2016): Why experience changes attitudes to congestion pricing. The case of Gothenburg. Transportation Research Part A: Policy and Practice, 85, 1-16.
  8. [8] Pridmore, A.; Miola, A. (2011), Public Acceptability of Sustainable Transport Measures. A Review of the Literature, International Transport Forum Discussion Papers, No. 2011/20. Paris: OECD Publishing. URL: https://doi.org/10.1787/5kg9mq56dfs8-en.
  9. [9] Schuitema, G.; Steg, L.; Forward, S. (2010): Explaining differences in acceptability before and acceptance after the implementation of a congestion charge in Stockholm. Transportation Research Part A, 44, 99-109.
  10. [10] Schade, J.; Baum, M. (2007): Reactance or acceptance? Reactions towards the introduction of road pricing. Transportation Research Part A: Policy and Practice 41, 1, 41-48.
  11. [11] Canzler, W.; Knie, A. (2019): Autodämmerung. Experimentierräume für die Verkehrswende. Berlin: Heinrich-Böll-Stiftung.