Die 15-Minuten-Stadt ist gleichermaßen Vision wie städtebauliches Konzept, um der Herausforderung Nachhaltigkeit planerisch Rechnung zu tragen. Durch eine wohnortnahe Versorgung der Bevölkerung mit Dienstleistungen und Einrichtungen des täglichen Bedarfs sollen Alltagswege möglichst kurz und folglich gut zu Fuß oder mit dem Fahrrad zu bewältigen sein.
Wie funktioniert das Konzept genau?
Der Begriff 15-Minuten-Stadt wurde vom Pariser Stadtforscher Carlos Moreno 2016 eingeführt und greift bekannte Ansätze auf: die Grundversorgung der Bevölkerung soll in einem 15-minütigen Gehradius um den Wohnort gewährleistet werden und umfasst die Dimensionen Arbeiten, Einkauf, Gesundheit, Ausbildung und Unterhaltung [1]. Dies erfordert eine gewisse bauliche Dichte, kleinteilige Strukturierung und konsequente Förderung von Nutzungsmischung [2, 3], bspw. Wohnraumschaffung über einer gewerblichen Sockelzone oder adäquate Grünflächenzahlen.
Zustände der Unterversorgung sollen unter Beteilung von Bürger:innen ausgebessert und die Wünsche bislang benachteiligter Gruppen besser adressiert werden. Dazu ist auch ein sozio-kultureller Nachbarschaftsmix förderlich. Auch die Digitalisierung ist eine hilfreiche Komponente der (sozialen) Vernetzung und Reduzierung von Mobilitätsbedarfen [1]. Der aktuell für fahrende und parkende Autos vorgehaltene Raum kann für Begrünung und / oder Begegnungsflächen neu genutzt werden. Zeit-/Kostenersparnisse sowie Lärm- und Schadstoffreduktion sind weitere Folgewirkungen.
Das Konzept lässt sich flexibel dimensionieren: vom kleinen Superblock, durch den der Durchzugsverkehr des motorisierten Individualverkehrs (MIV) aus einem Gebiet herausgehalten und über Ringzufahrten und Sammelgaragen gelenkt wird, über die 15-Minuten-Fahrradstadt bis zur 30-Minuten-Region, in der Zentren (bzw. Arbeits- / Freizeitstätten) auch aus der Peripherie in angemessener Reisezeit öffentlich erreichbar sind. Es gibt GIS-basierte Tools, um Erreichbarkeiten und Versorgungsqualitäten kartographisch darzustellen.
Welche historischen Entwicklungen führten zum Umdenken?
Gerade in den späten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurde das Konzept der autogerechten Stadt propagiert und planerisch verfolgt. Die zunehmende Leistbarkeit und die gestiegene Bedeutung von individueller Freiheit begünstigten die Verbreitung des Autos in alle Gesellschaftsschichten. Die Stadtplanung schaffte eher die dafür nötige Infrastruktur als rechtzeitig Weichen für die Zukunft zu stellen. Wohnen, Arbeiten und Freizeit wurden zunehmend räumlich voneinander getrennt, weil mittels MIV ohnehin für alle erreichbar. Es entstanden u.a. zentrale Bürokomplexe und gleichzeitig reine Wohnsiedlungen im „Speckgürtel“ bzw. Einkaufszentren und Freizeitstätten inkl. großen Parkplätzen praktisch auf der grünen Wiese mit Zubringer-Straßen aus den Ortskernen. Zur Erholung geht man nicht vor die Haustür, sondern fährt in ein Landschaftsschutzgebiet am anderen Ende der Stadt [4].
Konsequenz für eine heute viel nachhaltiger denkende Gesellschaft ist, dass zu viel motorisierter Individualverkehr induziert wurde, der negative Auswirkungen auf Umwelt, Gesundheit und generell die Lebensqualität v.a. in dichteren Siedlungsformen hat. Zeitverluste durch Staus sind mit Blick auf die Herausforderungen des Klimawandels geradezu vernachlässigbar, wenn auch ärgerlich. Laut diversen Klimaschutzabkommen müssen Versiegelung und fossile Emissionen reduziert werden, um eine lebenswerte Zukunft zu erhalten, und der Verkehr ist nach wie vor ein Hauptverursacher.
Wie belastbar ist die Vision von der 15-Minuten-Stadt
Es liegt auf der Hand, dass dieses generische Konzept keine Schablone für jeden urban geprägten Entwicklungsraum ist. Es lassen sich zahlreiche Fragen aufwerfen, wie eine qualitätsvolle Umsetzung in der Praxis aussehen und bewertet werden kann: bspw. müsste ausdefiniert werden, welche Institutionen täglichen Bedarf decken und ob alle in gleichem Maße wichtig für die Lebensqualität sind. In der Regel nehmen Menschen etwa eine weitere Anreise zum Arbeitsort in Kauf, um in einem attraktiveren Stadtteil zu leben. Der Siedlungsbestand und präferierte Wohnformen erlauben es zudem nicht überall dicht und kleinstrukturiert zu entwickeln, was durch x-Minuten-Konzepte der Fußgeh- oder Fahrraderreichbarkeiten abgefedert wird. Erreichbarkeiten sind auch nicht für alle Personengruppen gleich, sondern basieren auf Geschwindigkeit. Der aktuelle Stand der Forschung wird in einer Spezialausgabe des Journal of Urban Mobility präsentiert [5]. Für Utrecht wurde bspw. errechnet, dass 94% der Bevölkerung in 10min-Raddistanz gut versorgt sind.
Die Unschärfen hinsichtlich einheitlicher Bemessungskriterien trugen zu einer ambivalenten öffentlichen Rezeption bei. Angetrieben von der Corona-Pandemie haben sich möglicherweise daraus Verschwörungsmythen gebildet, die von gefängnisartigen digitalen Überwachungsmethoden der individuellen Mobilität handeln [6]. Es bleibt zu wünschen, dass sich zahlreiche Kritiker:innen mit dem zweifellos guten Argumentarium überzeugen lassen, dass niemand in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt, sondern aktive Mobilität in einer gesunden, glücklichen Nachbarschaft gestärkt werden soll. Fachlich nicht zu vernachlässigen ist die Gefahr der Gentrifizierung, wenn singuläre, nicht ausgewogen über die Gesamtstadt verteilte “15-Minuten-Städte” zu neuen urbanen Zentren führen und steigende Wohnungspreise die ärmere Bevölkerung an den Rand drängen. Hier ist ein Ausgleich seitens der Planung und Wohnbaupolitik gefragt.
Wo gibt es Umsetzungen mit Vorbildcharakter?
Stadtmarketing Austria liefert eine gute Übersicht der allgemeinen Vorteile von 15-Minuten-Städten und wie Nutzende profitieren können [4]. Weiters werden diverse gute Umsetzungsbeispiele aus aller Welt genannt. Das in Barcelona angewandte Prinzip der Superblocks gilt bereits als Archetyp. Straßen sollen zum erweiterten Wohnzimmer werden durch Reduktion der Verkehrsflächen und attraktive Aufenthaltsräume. Die Zahl der Geschäfte erhöhte sich signifikant.
Paris, als wissenschaftlicher Ausgangspunkt des Konzepts, hat sich zur Umsetzung einer umfangreichen Radwegoffensive, zahlreichen Tempo 30-Zonen und drastischen Reduktion von Straßenparkplätzen verpflichtet. Wie immer sind das Bekenntnis von oberster Stelle sowie das Bewerben einer Kultur des Radfahrens und Zufußgehens durch Masterpläne und Beteiligungsverfahren enorm förderlich zur Beschleunigung des Transformationsprozesses. Auch viele andere Städte wie Nantes, Kopenhagen oder Oslo zeigen beispielhafte Entwicklungen auf dem Weg zur 15-Minuten-Stadt, indem statt dem Autoverkehr Begrünung und aktive / geteilte Mobilität (z.B. Leihradsysteme) gefördert werden. Alle eint der Grundsatz Städte für die Bedürfnisse der Menschen zu bauen und gestalten und nicht umgekehrt.
Quellen
[1] Carlos Moreno et al. (2021): Introducing the “15-Minute City”: Sustainability, Resilience and Place Identity in Future Post-Pandemic Cities: https://www.mdpi.com/2624-6511/4/1/6
[2] https://www.klimaaktiv.at/mobilitaet/gehen/15-minuten-stadt.html
[3] https://www.oekostadt.at/de/files/nutzungsmischung.htm
[4] https://www.stadtmarketing.eu/die-15-minuten-stadt/
[5] Journal of Urban Mobility: The 15-Minute City – accessibility by proximity (Special Issue, 2023): https://www.sciencedirect.com/special-issue/10THWRQP01H