Soziale Selektivität in Beteiligungsprozessen: Die gleichen Gesichter und ihre Ursachen

Weshalb sieht man bei Bürger:innenforen, Zukunftswerkstätten, Grätzeltreffs oder Planungsworkshops immer die gleichen Gesichter? Die Ursache liegt in der sozial selektiven Wirkung von Beteiligungsprozessen. Aber warum ist das der Fall und wie kann man effektiv dieser sozialen Selektivität entgegenwirken?

Was ist Soziale Selektivität denn genau?

Gleich vorweg: Politische Teilhabe ist ungleich verteilt. Ob Bürger:innen an Beteiligungsprozessen teilnehmen, ist von der eigenen sozio-ökonomischen Lage abhängig. Personen mit höherer Bildung und Einkommen bringen sich überdurchschnittlich häufig ein. Hingegen sind es sozial Benachteiligte, die oft besonders von möglichen negativen Aspekten der Planung und Transformation, wie etwa Gentrifizierung (siehe Blogbeitrag Transformation – begrünt und sozial nachhaltig?), betroffen sind. Etwa sind Menschen mit Migrationshintergrund, Alleinerziehende, Jugendliche oder von Armut betroffene Personen in diesen Prozessen meist unterrepräsentiert (vgl. Böhnke; Schmiz u. Caminero, S. 83-84).

Es gilt: Je mehr Benachteiligungsfaktoren zusammenkommen, wie niedriger Bildungsgrad, Armut oder fehlende Sprachkenntnisse, desto weniger sind diese Personen in Beteiligungsformaten vertreten. Gleiches gilt für Faktoren, die sich positiv auf die Partizipation an Beteiligungsformaten auswirken. Denn je mehr Ressourcen Personen besitzen, wie einen hohen Bildungsgrad oder ausreichend Zeit, desto eher sind ihre Interessen in Partizipationsprozessen vertreten (vgl. Schmiz u. Caminero, S. 83-84).

Wie manifestiert sich soziale Selektivität in der Praxis und was läuft in Beteiligungsprozessen oft schief?

Die Unterrepräsentation bestimmter Bevölkerungsgruppen wird durch die Art und Weise, wie Beteiligungsprozesse konzipiert sind, verstärkt. Die unterrepräsentierten Personengruppen werden etwa in Partizipationsformaten oft nicht ausreichend aktiv aufgesucht oder aufgrund von Sprachbarrieren unzureichend einbezogen. Insbesondere für marginalisierte Personen gestaltet sich die (meist unbezahlte) Teilnahme an Beteiligungsprozessen als schwierig, da sie diese zusätzlich zur Belastung durch Arbeit, Betreuung von Kindern und der Organisation des Haushalts integrieren müssen, für welche sie sich meist keine oder kaum Unterstützung leisten können (vgl. Schmiz u. Caminero, S. 83-84).

Des Weiteren ist für die aktive Teilnahme an Beteiligungsformaten die Vertrautheit in einer öffentlichen Umgebung zu sprechen relevant, um die eigenen Interessen vertreten zu können. Bei Plenumsveranstaltungen kommen vor allem die kommunikationsstärksten Teilnehmenden zu Wort. Dazu gehören neben höher gebildeten Bürger:innen auch Menschen, die von Berufs wegen viel sprechen, wie z.B. Akteur:innen aus der Politik. Im Gegensatz dazu haben Personen, die nicht daran gewöhnt sind, in der Öffentlichkeit zu sprechen oder für die Deutsch nicht die Muttersprache ist, eine erheblich höhere Hürde, sich aktiv einzubringen (vgl. Walther; Schmiz u. Caminero, S. 83-84).

Soziale Selektivität: Wer hat, dem wird gegeben

Doch worin besteht eigentlich das Problem, wenn nur diejenigen kommen, die bereits jetzt aktiv an Beteiligungsprozessen teilnehmen?

Unterschiedliche Bevölkerungsschichten haben unterschiedliche Bedürfnisse und Interessen, auf die umfassende Planung eingehen sollte (siehe Blogbeitrag Vielfältige Perspektiven, robuste Planung – Warum Diversität wichtig ist). Für marginalisierte Personen etwa spielt der öffentliche Raum eine entscheidende Rolle, da sie oft in beengten Wohnverhältnissen leben und seltener über private Freiräume wie Balkone oder Gärten verfügen. Familien mit Kindern sind beispielsweise besonders auf öffentliche Spiel- und Grünflächen angewiesen. Auch Menschen mit physischen oder psychischen Beeinträchtigungen haben spezifische Anforderungen an öffentliche Räume, etwa in Bezug auf deren barrierefreie Gestaltung (vgl. Schmiz u. Caminero, S. 83-84).

In weiterer Folge führt soziale Selektivität in Beteiligungsprozessen dazu, dass sozioökonomisch starke Personen ihre Interessen überproportional vertreten, während die Anliegen ressourcenschwächerer Gruppen unterrepräsentiert bleiben. Dies birgt die Gefahr verstärkter sozialer Ungleichheit, wenn die spezifischen Bedürfnisse marginalisierter Gruppen vernachlässigt werden und stattdessen überwiegend die Interessen sozioökonomisch starker Personen in die Planungen einfließen. Kurzum: Wer hat, dem wird gegeben (vgl. Gebhardt u. König, S. 336; Fraune).

Zwischen Anspruch und Realität: Beteiligung für alle?

Ist es aber überhaupt realistisch, wirklich alle zu beteiligen?

Vorweg sei gesagt, dass jeder Beteiligungsprozess, mag er noch so gut sein, meist sozial selektiv ist (vgl. Bock u. Reimann, S. 184). In weiterer Folge muss sich die Frage gestellt werden, ob wirklich alle Betroffenen beteiligt werden müssen – ist das überhaupt der Sinn der Sache? Oder ist es nicht für eine effektive Beteiligung gerade notwendig, selektiv zu wirken? Anders ausgedrückt: Müssen nicht bestimmte Personengruppen gezielt angesprochen werden, um sich erst angesprochen zu fühlen und ihre Mitsprache als gerechtfertigt anzusehen? Muss also nicht der Anspruch, im Rahmen eines Partizipationsprozesses, wirklich alle zu beteiligen, kritisch hinterfragt werden? Statt zwanghaft zu versuchen, alle zur aktiven Beteiligung zu bewegen, sollte vielmehr der Fokus darauf liegen, allen die Möglichkeit zur Beteiligung zu bieten und dabei die jeweiligen betroffenen Bevölkerungsgruppen aktiv einzubeziehen (vgl. Selle, S. 293; Gebhard u. König, S. 340-342). Die Beteiligungsmethoden sind dabei auf die Anforderungen der jeweiligen Zielgruppe auszurichten.

Wie vermeide ich soziale Selektivität?

Um sozialer Selektivität in Beteiligungsprozessen entgegenzuwirken, stehen verschiedene Ansätze zur Verfügung. Zu Beginn ist es wichtig zu klären, wer im Zuge des Beteiligungsprozesses angesprochen werden soll. Auf Basis dieser Erkenntnisse gilt es Beteiligungsformate zu entwickeln, die auf die Bedürfnisse und Eigenschaften dieser Zielgruppen zugeschnitten sind.
Im Folgenden werden einige Formate aufgelistet, die darauf abzielen, eine größere Vielfalt und Inklusion in den Beteiligungsprozessen zu fördern (vgl. Gebhardt u. König, S. 336; Schmiz u. Caminero, S. 83-97; Walther):

  • Aufsuchende Partizipation: Durch das Aufsuchen von Gemeinschaften, z. B. Senior:innen-Cafés, Jugendzentren und anderen relevanten Orten, können unterrepräsentierte Gruppen aktiv eingebunden werden. Sie werden direkt im Alltag angesprochen, müssen nicht an einem Format teilnehmen, das nicht auf sie zugeschnitten ist oder für das ihre eigenen Ressourcen nicht ausreichen. (siehe beispielsweise Methode Aktivierende Befragung)
  • Community Leader einbinden: Durch die Einbindung von Schlüsselpersonen wie Vorständen von Vereinen oder religiösen Führungspersonen können marginalisierte Gruppen besser erreicht und in den Beteiligungsprozess integriert werden.
  • Zufallsauswahl: Durch einen Beteiligungsprozess per Los sind Erwartungen an eine verbesserte Inklusion, an eine größere Heterogenität und eine stärkere Unabhängigkeit der Beteiligten verbunden. (siehe beispielsweise Methode Bürger:innenrat)
  • Arbeit vor Ort (Pop-Up Store): Veranstaltungen vor Ort, im öffentlichen Raum, ermöglichen eine niederschwellige und direkte Einbindung von Passant:innen und können das Interesse von marginalisierten Gruppen wecken.
  • Digitale Partizipation: Digitale Plattformen (siehe beispielsweise Methode Crowdsourcing und Online Ideen Plattform) ermöglichen eine Ansprache insbesondere jener, die möglicherweise nicht persönlich an Veranstaltungen vor Ort teilnehmen können. Junge Menschen mit Migrationsbiografie und Mehrsprachigkeit beteiligen sich tendenziell häufiger an digitalen Formaten. Jedoch kann digitale Beteiligung für bestimmte Gruppen, wie ältere Menschen, auch ein Hindernis darstellen sich zu beteiligen.

Weitere Aspekte für einen inklusiven, fairen und transparenten Beteiligungsprozess sind im Blogbeitrag Beteiligung? Ja, aber richtig! zu finden.

 

Referenzen:

  1. Böhnke, P. (2010). Soziale Selektivität in der Bürgerbeteiligung. 28.12.2010. URL: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/33571/ungleiche-verteilung-politischer-und-zivilgesellschaftlicher-partizipation/, abgerufen am 20.11.2023
  2. Schmiz A., Caminero L. (2018). Stadt ermöglichen – soziale Selektivität in Beteiligungsprozessen in: Y. Franz, A. Strüver (Hrsg.): Stadtgeographie. S. 79-112
  3. Walther, B. (2017). Soziale Selektivität in der Bürgerbeteiligung. 31.07.2017. URL: https://www.bipar.de/soziale-selektivitaet-in-der-buergerbeteiligung/, abgerufen am 20.11.2023
  4. Gebhardt, L., König A. (2018). Wie vermeiden wir den Matthäuseffekt in Reallaboren? Selektivität in partizipativen Prozessen? in: Ruhr Oekom (Hrsg.): Raumforschung und Raumordnung | Spatial Research and Planning. S. 336-350.
  5. Fraune, C. (2018). Bürgerbeteiligung in der Energiewende – auch für Bürgerinnen? in: Lars Holstenkamp und Jörg Radke (Hrsg.). Handbuch Energiewende und Partizipation. Wiesbaden: S. 759-767.
  6. Bock, S., Reimann, B. (2023). Mit dem Los zu mehr Vielfalt in der Bürgerbeteiligung? Chancen und Grenzen der Zufallsauswahl. in: Jörg Sommer (Hrsg.): Kursbuch Bürgerbeteiligung #4. S. 184-19.
  7. Selle, K. (2000). Zur sozialen Selektivität planungsbezogener Kommunikation. Angebote, Probleme und Folgerungen. in: Harth, A.; Scheller, G.; Tessin, W. (Hrsg.): Stadt und soziale Ungleichheit. Wiesbaden, 293-309.